Ringvorlesung: Emanzipation und Identität

Gerhard Scheit: Zur Kritik des Staats im Zeitalter des neuen Behemoth

"Jeder weiß, dass unter den Bedingungen des Kapitals Hunger kein Grund für Produktion ist (so Christian Thalmaier in sans phrase 1/2012). Aber das genügt nicht mehr: Jeder weiß auch, dass unter den Bedingungen des Kapitals immer noch Schlimmeres als diese Bedingungen drohen – und diese Drohung selbst noch zu seinen Bedingungen gehört: dass die Krise dem Kapital, der Ausnahmezustand dem Staat innewohnt. Und hier wird der Abgrund erst vollends sichtbar, den die Ironie im Marxschen Begriff des „automatischen Subjekts“ enthält, indem sie einen für die Verwertung idealen Zustand ausmalt, den es realiter gar nicht geben kann. Der in jeder Ware vorhandene Gegensatz von Gebrauchswert und Wert, der bedeutet, dass besondere konkrete Arbeit nur als abstrakt allgemeine Arbeit gilt, liegt zwar der Automatik der Verwertung zugrunde, weil nur durch ihn es überhaupt möglich ist, dass die Zeit, die zur Produktion der Ware notwendig ist, zum obersten Prinzip gesellschaftlicher Synthesis wird. Mit diesem Gegensatz ist aber zugleich die Möglichkeit gegeben, dass der Wert sich nicht mehr verwertet; die okkulte Qualität verliert, Wert zu setzen, und also keine goldenen Eier mehr legt: sobald nämlich die Ware sich nicht länger automatisch in Geld zurückverwandelt, Produktions- und Konsumtionskraft der Gesellschaft vielmehr auseinanderfallen.
In diesem Zerfallsprozess löst sich in letzter Instanz auch die Einheit des Souveräns auf, der den Zusammenhang der Verwertung zu sichern eigentlich berufen ist: der Hobbessche Gott ist eben sterblich, an seine Stelle tritt der neue „Behemoth“ (Franz Neumann): Das Subjekt vermag Einheit scheinbar nur noch in einem Wahn zu finden, der unmittelbar auf solche Zerfallstendenzen – die immer, auch im Zustand funktionierender Verwertung spürbar bleiben – in allen seinen Aspekten reagiert und die Drohung der Krise personifiziert. Die vollendete Gestalt dieses Wahns ist die „pathische Projektion“ (Adorno/Horkheimer), die auf die Juden zielt, und sie kommt insofern bei Heidegger, dem konsequentesten deutschen Ideologen, in ihrer ganzen Symptomatik zum Ausdruck, als er die von ihm wie von allen Antisemiten phantasierte „Menschentümlichkeit“ der Juden nicht mit irgendwelchen physischen ‚Rassenmerkmalen‘ biologistisch umschreibt, sondern gleichsam metaphysisch als „Rechenhaftigkeit“ definiert: Den Juden wird, wenn das automatische Subjekt nicht mehr zu funktionieren droht, dessen Prinzip zugeschrieben: das Messen des nicht Messbaren; der Gegensatz von Gebrauchswert und Wert, konkreter und abstrakter Arbeit, als die von den Juden betriebene „Entwurzelung alles Seienden aus dem Sein“."

Gerhard Scheit lebt als freier Autor in Wien, in diesen Tagen erscheint sein neues Buch Kritik des politischen Engagements beim ça ira Verlag (Freiburg).

Mittwoch, 29.06.2016
18:30 Uhr – Eintritt frei.

Location:

Schlosskeller
im Residenzschloss
64283 Darmstadt
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Veranstalter:

Schlosskeller